Architektur

Fünf Schlüsselfiguren der Ökoarchitektur

Silvia Lugari29.10.2025
Ökoarchitektur Featured

Wenn Vitruvius De Architectura nicht im Jahr 30 v. Chr., sondern heute geschrieben hätte, würde er Nachhaltigkeit wahrscheinlich zu den grundlegenden Prinzipien der Architektur zählen. Die drei berühmten vitruvianischen Kriterien – Stabilität (firmitas), Nützlichkeit (utilitas) und Schönheit (venustas) – sind nach wie vor gültig und wesentlich, doch die Herausforderungen der Gegenwart erfordern einen weiteren Schritt.

Heute argumentieren viele, dass es nicht mehr ausreicht, von „Bioarchitektur“ als einer separaten Kategorie zu sprechen. Nachhaltigkeit muss selbstverständlich zu jeder Architekturpraxis gehören und darf nicht als optionales oder zweitrangiges Anliegen gelten.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen zu richten, die zu Meistern des nachhaltigen Designs geworden sind. Die folgenden fünf Architekten sind Schlüsselfiguren der Ökoarchitektur, die diese Disziplin auf lokal und global einzigartige Weise geprägt haben.

Norman Foster: Nachhaltigkeit als Innovation

Norman Foster, einer der einflussreichsten zeitgenössischen Architekten, wurde 1935 in Manchester geboren und gründete 1967 Foster + Partners. Das Studio ist weltweit tätig und realisiert Projekte von der Stadtplanung bis hin zu öffentlichen Gebäuden, Infrastruktur und Arbeitsplätzen – immer mit einem starken Fokus auf Innovation und Umwelteffizienz.

Norman Foster, der 1999 mit dem Pritzker-Preis – oft als „Nobelpreis der Architektur“ bezeichnet – ausgezeichnet wurde, ist bekannt für seine Fähigkeit, Ästhetik, Funktionalität und Nachhaltigkeit in einer einzigen architektonischen Vision zu vereinen. Für ihn ist Umweltverantwortung kein zusätzliches Merkmal, sondern ein grundlegendes Element des Designs selbst – von der Materialauswahl über Energieeffizienz und Langlebigkeit bis hin zur Anpassungsfähigkeit im Laufe der Zeit. Über die Norman Foster Foundation in Madrid fördert er zudem Forschung und Lehre zu diesen Themen.

Eines seiner bedeutendsten Nachhaltigkeitsprojekte ist die 2017 fertiggestellte Bloomberg-Europazentrale in London. Sie gilt als eines der nachhaltigsten Bürogebäude der Welt. Sie wurde aus natürlichen und recycelbaren Materialien gebaut und verfügt über natürliche Belüftung, intelligente LED-Beleuchtung und Regenwassernutzung. Das Projekt erreichte die höchste BREEAM- Bewertung „Outstanding“ (98,5 %) und setzte damit Maßstäbe für Energieeffizienz, Nutzerwohlbefinden und urbane Qualität in der nachhaltigen Architektur.

Hassan Fathy: Tradition als Grundlage der Nachhaltigkeit

Hassan Fathy (1900–1989) war ein Visionär der Architektur des 20. Jahrhunderts. Er war ein ägyptischer Architekt, der die Ethik der Nachhaltigkeit mit der Ästhetik der Tradition verband. In einer Zeit, die von westlicher Moderne und industriellen Materialien geprägt war, wählte Fathy bewusst einen anderen Weg. Er basierte auf traditionellen Bautechniken, umweltschonenden lokalen Materialien und einem ständigen Dialog mit der Kultur und den Bedürfnissen der Gemeinden, für die er arbeitete.

Fathy studierte an der Universität Kairo und widmete einen Großteil seiner Karriere dem Experimentieren mit Adobe – einer Mischung aus unbearbeiteter Erde und Stroh, die seit Jahrhunderten in der Architektur des Nahen Ostens und Nordafrikas verwendet wird. Für ihn war Nachhaltigkeit nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale, ökologische und ethische Frage: Bauen bedeutete, die Lebensqualität zu verbessern , natürliche Ressourcen zu nutzen und passive Belüftung und Energieautarkie zu fördern.

Zu seinen berühmtesten Projekten zählt das Dorf New Gourna, das in den 1940er Jahren nahe Luxor erbaut wurde. Es wurde im Auftrag der ägyptischen Regierung errichtet und sollte die Bewohner des antiken Dorfes Gourna umsiedeln . Der Plan sah Lehmziegelhäuser, gewölbte Dächer und gemeinschaftlich genutzte öffentliche Plätze vor, die an das Wüstenklima angepasst waren. Wenngleich das Projekt nie vollständig fertiggestellt wurde und zunächst auf Kritik stieß, gilt es heute als Manifest der Bio-Architektur 'ante litteram' und als frühes Beispiel partizipativer Stadtplanung.

Obwohl er nie internationale Auszeichnungen wie den Pritzker-Preis erhielt, beeinflusste Fathy maßgeblich Generationen von Architekten, die sich für ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit einsetzten. Sein bekanntestes Buch „Architecture for the Poor“ (1973) ist bis heute ein Meilenstein für alle, die bewusst, respektvoll und verantwortungsvoll bauen wollen.

Vo Trong Nghia: Die Leichtigkeit der Natur in der Architektur

Vo Trong Nghia, geboren 1976 in Vietnam, gründete 2006 VTN architects in Ho-Chi-Minh-Stadt. Sein Architekturbüro ist tief in den Bau- und Landschaftstraditionen Südostasiens verwurzelt und interpretiert diese mit einer auffallend zeitgenössischen Vision neu, in der Natur und Architektur in einem harmonischen, poetischen Gleichgewicht verschmelzen.

Sein Markenzeichen ist die strukturelle und kreative Verwendung von Bambus – einem wirtschaftlichen, erneuerbaren, leichten und flexiblen Material. In seinen Projekten wird Bambus zu einem zentralen architektonischen Element mit minimaler Umweltbelastung. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht eine klare ökologische Mission: Er will auf die rasante Urbanisierung Vietnams mit nachhaltigen, regenerativen und barrierefreien Gebäuden reagieren, die die Menschen selbst in dicht besiedelten Städten wieder mit der Natur verbinden.

Zu seinen bedeutendsten Werken zählt das „Haus der Bäume“, ein Wohnhaus in Ho-Chi-Minh-Stadt, das eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt wieder grüner machen soll. Das Projekt besteht aus fünf mit Porenbeton verkleideten Baukörpern, die jeweils mit großen „Vasen“ gekrönt sind, in denen Bäume und üppige Vegetation wachsen. Es spendet nicht nur Schatten und natürliche Belüftung, sondern setzt auch ein klares Statement: Selbst im Herzen der Stadt kann und muss die Natur ein wesentlicher Bestandteil des Lebens bleiben.

Bjarke Ingels: Optimismus der Form, Nachhaltigkeit als urbane Strategie

Bjarke Ingels, geboren 1974 in Dänemark, zählt zu den charismatischsten und bekanntesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Architektur. Als Gründer der BIG – Bjarke Ingels Group ist er bekannt für seinen mutigen, visionären Ansatz, der Pragmatismus, Innovation und Nachhaltigkeit vereint. Seine Projekte stellen oft Konventionen in Frage und eröffnen neue Wege, urbanen Raum zu erleben – mit einer Formensprache, die überraschend, verspielt und symbolträchtig ist. Nachhaltigkeit ist für Ingels kein nachträglicher Gedanke, sondern der Kern seiner Designstrategie.

Im Laufe der Jahre erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Europäischen Architekturpreis, und wurde vom TIME Magazine zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten gezählt. Was ihn jedoch mehr als nur Auszeichnungen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Umweltbewusstsein in einen Motor gestalterischer Kreativität zu verwandeln. Damit gilt er als weltweiter Maßstab in der zeitgenössischen Architektur.

Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Vision ist CopenHill (Amager Bakke) in Kopenhagen: eine Müllverbrennungsanlage, die zur öffentlichen Attraktion umgebaut wurde. Ihr Dach dient gleichzeitig als künstliche Skipiste, das Gebäude bietet eine Kletterwand, Wanderwege und Grünflächen für die Bürger. Neben der Erzeugung sauberer Energie aus nicht recycelbarem Abfall definiert das Projekt die städtische Infrastruktur neu: als Ort, an dem technische Funktionalität und Lebensqualität koexistieren.

Renzo Piano: Leichtigkeit als Form der Verantwortung

Renzo Piano, der 1998 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, ist bekannt für seinen nüchternen, funktionalen Ansatz und den Einsatz fortschrittlicher Bausysteme. Als stiller, aber visionärer Architekt lehnt er formale Protagonisten konsequent ab und setzt stattdessen auf eine Architektur, die den Menschen dient – Licht in seinem technischen und ökologischen Fußabdruck und stets im Dialog mit dem Kontext. Für Piano bedeutet Bauen, sich um Raum, Licht, Klima und vor allem um das Leben zu kümmern, das diese Räume beherbergen.

Seit seinen frühen Projekten, insbesondere nach dem Centre Pompidou in Paris (entworfen zusammen mit Richard Rogers), hat Piano eine Architektursprache entwickelt, die technologische Innovation mit ökologischer Sensibilität verbindet. Seine Arbeit legt Wert auf Materialien, strukturelle Reversibilität, natürliche Belüftung und den Einsatz von Licht. Es ist eine diskrete, unaufdringliche Nachhaltigkeit, die aus unsichtbaren, aber entscheidenden Details besteht, die die ökologische Wirkung und die Lebensqualität verbessern.

Zu den zahlreichen nachhaltigen Projekten seines Studios RPBW zählen das Wissenschaftsmuseum Muse in Trient, das Stavros Niarchos Cultural Center in Athen und die California Academy of Sciences in San Francisco. Ein weniger bekanntes, aber besonders bedeutsames Projekt ist Diogene, eine sechs Quadratmeter große, autarke Mikrowohnung auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein. Ausgestattet mit Solarzellen, Regenwassersammlung und -filterung sowie optimierter natürlicher Belüftung ist sie mehr als nur ein kompakter Unterschlupf – sie ist ein greifbares Beispiel für ein leichtes, schlichtes und nachhaltiges Leben.

Die verschiedenen Richtungen der Ökoarchitektur

Jeder dieser Architekten zeigt, dass nachhaltiges Design nicht nur eine Frage der Technik und Energieeffizienz ist, sondern auch eine Frage sozialer Verantwortung, der Verbundenheit mit dem Ort, emotionaler Ästhetik und des menschlichen Wohlbefindens. Von Hassan Fathys volkstümlichem Ansatz bis zu Bjarke Ingels‘ urbanen Innovationen und von Vo Trong Nghias Integration der Natur bis zur technologischen Effizienz von Foster und Piano spiegeln ihre Praktiken unterschiedliche, aber dennoch übereinstimmende Visionen wider: Gebäude, die den Menschen dienen und gleichzeitig den Planeten respektieren.

dormakaba Redaktionsteam

Silvia Lugari

Silvia Lugari

Silvia Lugari gestaltet Orte und plant Veranstaltungen für die regenerierten Räume der Manifattura Tabacchi in Florenz. Nach ihrem Abschluss mit einem Master-Abschluss in Architektur an der Universität Florenz organisierte sie über zehn Jahre lang kulturelle Veranstaltungen und Reisen für Architekten und arbeitete mit den Zeitschriften 'Casabella' und 'The Plan' zusammen.

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